Interview mit Jean-Luc
Jean-Luc, beim Pressegespräch anlässlich der Einweihung der Lebensbahn sagtest Du: „Aids ist in der Gesellschaft angekommen. Aber die Gesellschaft hat es noch nicht bemerkt und schwankt zwischen Bagatellisierung und Dramatisierung.“ Wie ist das zu verstehen?
Jean-Luc: Anhand meiner eigenen Biographie kann ich dieses Spannungsfeld deutlich machen:
Als ich 1987 ein positives Testergebnis bekam, war ich mit der Perspektive eines baldigen Todes konfrontiert; ich war 41 Jahre alt. Jahrelang setzte ich mich mit dieser existentiellen Bedrohung auseinander. Und mit mir die Menschen, die mir nahe standen. Das war die erste Phase. Sie dauerte bei mir 10 Jahre.
1997 erkrankte ich und die ganz frisch entdeckte Kombitherapie rettete mir das Leben, mindestens für eine gewisse Zeit, denn es fehlte an Langzeitstudien. Das ist die zweite Phase, ich durfte mir ab dann Hoffnung machen, Hoffnung, dass diese Medikamente wirken werden. Mit den Jahren wurde die Einnahme einfacher und die Nebenwirkungen ließen nach.
Seit ein paar Jahren lasse ich meine Werte nur noch einmal jährlich kontrollieren. Die dritte Phase ist eingetreten: ich bin zuversichtlich, dass ich ein fast normales Lebensalter erleben werde.
Ich habe also 3 Phasen durchlebt: Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht.
Was bedeutet das konkret?
Jean-Luc: Nun, mittlerweile bin ich mit meiner chronischen Krankheit namens Aids mitten in der Gesellschaft angekommen; Aber hat die Gesellschaft es bemerkt? Ist eine Normalisierung in Sicht? Vor diesem Hintergrund ist die Aktion „Lebensbahn“ in Hannover zu sehen.
Im Spannungsfeld von Bagatellisierung und Dramatisierung
Wo siehst Du Bagatellisierung, wo Dramatisierung?
Jean-Luc: Bagatellisierung spiegelt sich zum Beispiel in der Zunahme der Neuinfektionen wider.
Dramatisierung hingegen hat großen Einfluss auf die Lage von Menschen mit HIV und Aids:
beruflich gelten wir als schwer vermittelbar,
juristisch gelten wir als potentielle Täter,
moralisch gelten wir als Versager,
sexuell gelten wir als gefährlich,
gesellschaftlich gelten wir als Außenseiter,
medizinisch - auch zahnmedizinisch - gelten wir als problematische Fälle, zumindest bei einem Arzt mit wenig Erfahrung im Umgang mit Aids.
In dieser Spannung zwischen Bagatellisierung und Dramatisierung zeigen zehn Frauen und Männer mit HIV und Aids aus Niedersachsen ihre Gesichter auf einem Silberpfeil der üstra. Unsere Geschichte können die Fahrgäste hier auf der Website nachlesen.
Ziele der Aktion, Wünsche für die Zukunft
Welches Ziel verfolgt die Aktion „Lebensbahn“
Jean-Luc: Diese Aktion wirbt für mehr Respekt gegenüber Menschen mit HIV und Aids. Respekt heißt wortwörtlich „zurückschauen“, genau hinschauen, sich mit der Realität zu befassen, wie sie heute ist. Konkrete Begegnungen ermöglichen diese Entwicklung. Genau das wünschen wir uns!
Ich will mich offen zu meiner Infektion mit Aids bekennen können,
ich will keine Angst mehr haben, dadurch Nachteile zu haben,
ich will frei von Versteckspielen und Verbiegungen leben,
und meine Verantwortung für mein Leben tragen, wie es ist.
Wie geht es jetzt weiter?
Jean-Luc: Mit der Lebensbahn haben wir einen Schritt in diese Richtung gemacht. Sie wird nun mindestens ein halbes Jahr auf verschiedenen Linien in Hannover für Respekt werben. Jeder, der sich hier auf der Website informiert und im Bekannten- und Freundeskreis darüber spricht, ist dabei ebenfalls von großer Hilfe!