Interview mit dem Protagonisten Michael
Michael, bei der Einweihung der Lebensbahn am 7. Juni 2011 hast Du dem Publikum ein paar Worte aus Sicht der drei Frauen und sieben Männer mit auf den Weg gegeben. Was ist Euer Grundgedanke bei dieser Aktion?
Michael: Wir sind zehn Betroffene, die sich seit Jahren mit HIV und AIDS herumschlagen. Wir geben der Erkrankung auf der Lebensbahn großformatig lebendige Gesichter. Und das habe ich bei der Einweihung aus ganz eigener Perspektive geschildert.
Stimmt, denn eigentlich betrachtest Du „Werbebotschaften“ kritisch...
Michael: Richtig, wir alle, besonders die
Menschen in den Metropolen werden mit Werbung geradezu zugeballert. Ein
unerbittlicher ästhetischer Fluch des Götzen Marktwirtschaft, der uns
nicht selten den Blick darauf verstellt, was wirklich wichtig ist im
Leben – den wir kaum ignorieren, bestenfalls achselzuckend hinnehmen –
na, und der uns meist furchtbar „auf den Geist geht“.
Seit heute
bin ich also selbst, mit meinem Konterfei, in diesem Tamtam der Public
Relations, also der Werbebranche, gelandet. Immerhin ohne öffentliches
Casting. „Gefragt“ waren hier schlicht zwei Dinge – unsere Erkrankung an
HIV/Aids und unsere Bereitschaft, öffentlich zu dieser nach wie vor
häufig verschwiegenen, versteckten, nicht selten zum Tabu gemachten
Krankheit zu stehen.
Ein großer Schritt für jeden von Euch in die breite Öffentlichkeit...
Michael: Und ob! Mit einem solchen öffentlichen Outing mögen wenige von uns schon recht vertraut sein, für andere aber ist es das erste Mal, sich in so unverstellter Weise zu zeigen – und deswegen entsprechend heikel. Augenzwinkernd gesagt: Es braucht `nen ordentlichen „Arsch in der Hose“, bei einem solchen Vorhaben mitzumachen. Die dazu erforderliche Solidarität, die hab` ich im Kreise der Mitwirkenden erhalten. Toll, Danke!
So fiel es sicher leichter, mitzumachen.
Michael: Ich war spätestens mit der ersten gemeinsamen Zusammenkunft und der Begegnung mit dem Künstler Hannes Malte Mahler von dieser Aktion fasziniert. Das künstlerische Konzept hat mich von Anfang an überzeugt: Eine ganze Straßenbahn als gestaltbares Medium zu begreifen und der Analogie zwischen „Straßenbahn“ und „Lebensbahn“ HIV/Aids-Betroffener auf die Spur zu kommen. Eine solch präzise, packende Idee, die muss man erst mal haben! Meinen Respekt hat Hannes Malte Mahler auch deswegen, weil es ihm wunderbar gelang, mit uns Betroffenen einen intensiven Dialog zu führen. Intensiv zugehört hat er, war stets offen für Vorschläge unsererseits – hat daraus sein künstlerisches Konzept kreiert und – gelegentlich beinhart – gegenüber uns vertreten. Dennoch: Als „Objekt“ hat sich niemand von uns je fühlen müssen.
Was wird die Lebensbahn beim Betrachter auslösen?
Michael: Wenn Sie sich diese besondere Straßenbahn, gestaltet auf der Basis einer Netzkarte mit den Fotos und den persönlichen Texten, betrachten, erhalten Sie eine Ahnung davon, welch substanzielle Lebensbiographien und -brüche sich bei jedem einzelnen HIV/Aids-Betroffenen dahinter verbergen. Mehr noch: Sie erhalten zugleich eine Ahnung davon, wie unterschiedlich die Lebensverläufe und auch die persönlichen Umgangsstile mit dieser Krankheit sein können.
Das spiegelt sich ja auch in den sehr persönlichen Texten wider.
Michael: Jeder von uns hatte die Möglichkeit, einen eigenen Text zu verfassen. Dieser durfte allerdings, so war es vereinbart, auf keinen Fall länger als 110 Wörter sein. Ich dachte: „Himmel hilf – nur 110 WÖRTER!“ Ich sage Ihnen, das war für uns `ne echte Herausforderung, die eigene Lebens- bzw. Krankheitsbiographie auf dieses Format einzudampfen. Andererseits hatte gerade diese formelle Vorgabe den Effekt, dass jeder von uns gezwungen war, die für sich selbst wesentlichen Botschaften passgenau auf den Punkt zu bringen.
Beschreibe das Gruppengefühl bei der Entwicklung des Projektes.
Michael: Dieses Lebensbahn-Projekt mag zu vielfältigen Assoziationen inspirieren. Wir haben aber gemerkt, dass eine Haltung allen Mitwirkenden gemeinsam ist: Wir alle sind Kämpfer und „werben“ dafür, sich vor der Infektion zu schützen. Auch, wenn es inzwischen wirksame Medikamente gibt, die es möglich machen, sich mit dieser chronischen Infektion nicht bereits am „Ende des Lebensgleises“ fühlen zu müssen und die uns Betroffenen jede Zukunft klaut – nein, „Smarties“ sind der unerbittliche tägliche Pillencocktail nicht, davon könnte aber nun wirklich jeder von uns sein eigenes Lied singen...
Wir sind hier nicht bei der Oscar-Verleihung. Aber möchtest Du, wie dort üblich, jemandem danken?
Michael: Ich bin ganz sicher, dass die Stadt Hannover mit diesem Projekt ein Beispiel für andere, weitere Städte setzt. Mein und unser besonders lieber Dank gilt Jean-Luc Tissot von der Niedersächsischen Aids-Hilfe für seine geradezu zauberhafte Moderation des gesamten Projektverlaufs. Er war`s, der die Fäden zu den Mitwirkenden und Kooperationspartnern zusammenhielt, war ein perfekter trouble shooter, er hat sich für das Projekt geradezu platt gemacht und sieht trotz allem Stress dabei noch gut aus... – ohne Jean-Luc gäb’s keine „Lebensbahn“, sondern bloss Straßenbahnen.
Und wie geht es Dir nun?
Michael: Ich? Ich freu' mich diabolisch darüber, dass ich jetzt in unserer Landeshauptstadt mindestens ein halbes Jahr lang „schwarz“ fahren kann. Das wollte ich schon immer mal!